Werk

Im Reichstagsgebäude strahlen aus der Mitte des nördlichen Lichthofes weiße Leuchtbuchstaben die Worte DER BEVÖLKERUNG in den Himmel. Die in der Längsachse des Hofes auf dem Boden liegenden 1,20 m hohen Buchstaben sind vom Plenarsaal des Bundestages aus von Westen nach Ost zu lesen. Besuchern auf dem Dach des Gebäudes leuchten sie aus der Tiefe des Hofes entgegen. Als Schriftvorlage dient die Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE vom Westportal des Reichstagsgebäudes.

Die Abgeordneten des Bundestages sind aufgefordert, aus ihren Wahlkreisen oder den Bundesländern, in denen sie als Listenkandidaten gewählt wurden, einen Zentner Erde in den Lichthof zu bringen. Diese aus 669 verschiedenen Gegenden (gegenwärtige Abgeordnetenzahl) der Bundesrepublik stammende Erde wird um die Leuchtbuchstaben herum in einem rechteckigen 6,80 x 20,80 m und 30 cm hohen Holztrog ausgestreut.

Samen und Wurzeln aus dem Herkunftsort sind von Natur aus in die nach Berlin mitgebrachte Erde eingebettet. Zusammen mit Berliner Flugsamen werden sie im Lichthof des Reichstagsgebäudes sprießen. Sie sollen sich frei – ohne gärtnerischen Eingriff – entfalten. Die Art der Pflanzen und ihr Wachstum sind nicht vorhersagbar. Beim Ausscheiden von Abgeordneten wird eine ihrem eingebrachten Anteil entsprechende Erdmenge entfernt. Neu gewählte Parlamentsmitglieder sind aufgefordert, ihrerseits einen Beitrag zum Erdvolumen und damit zur Vegetation im Lichthof zu leisten.

Der Wachstumsprozeß und die dem Rhythmus der Legislaturperioden folgende Zuführung und Wegnahme von Erde dauert an, solang demokratisch gewählte Parlamentarier im Reichstagsgebäude zusammentreten.

Mit Blick auf die Worte DER BEVÖLKERUNG sind auf der Abgeordnetenebene des Plenarsaales, der Presseebene und in den für das Publikum reservierten Bereichen im Plenarsaal und auf dem Dach Tafeln anzubringen. Auf ihnen sind alle Abgeordneten mit ihrer Parteizugehörigkeit und den Wahlkreisen oder Bundesländern, die sie im Bundestag vertreten, namentlich verzeichnet. Außerdem geben die Tafeln knappe Auskunft über die konzeptuellen Bezüge des Schriftzuges und des Wachstumsprozesses sowie das Datum, an dem die Abgeordneten ihren Erdanteil beigesteuert haben. Zum Beginn jeder Legislaturperiode sind die Tafeln durch neue zu ersetzen, die der veränderten Mitgliedschaft des Parlaments Rechnung tragen.

Zur Gewährung größtmöglicher Öffentlichkeit werden diese Informationen zusammen mit einem aktuellen Foto des Hofes auch außerhalb des Hauses auf einer dafür eingerichteten Website im Internet zugänglich gemacht. Eine statisch auf den Hof gerichtete Kamera mit ISDN-Anschluß ist programmiert, alle zwei Stunden eine Aufnahme zu machen und die Aufnahme von 12:00 Uhr mittags den Besuchern der täglich aktualisierten Website zu zeigen. So entsteht auf einer die Website unterstützenden Datenbank ein ständig wachsendes Bildarchiv, welches die Veränderungen im Hof gleichsam im Zeitraffer verfolgen läßt.

Den Abgeordneten, die einen Beitrag zur Erde im Innenhof geleistet haben, wird auf der Website die Möglichkeit geboten, mit einem Link DER BEVÖLKERUNG eigene Texte und Bilder zu präsentieren.

Nicht zum Projekt gehörende Gegenstände sind vom Innenhof fernzuhalten.


Hans Haacke, August 1999

Überlegungen, die dem Projekt zu Grunde liegen, und Erklärungen zu seiner technischen Ausführung können ergänzende Projektunterlagen entnommen werden.

Chronologie der Entwicklung des Kunstwerkes DER BEVÖLKERUNG

31. Dezember 2023
Seit der Eröffnung am 12. September 2000 – während der Wahlperiode 14 – bis heute haben sich 424 Abgeordnete aus allen Bundestagsfraktionen mit Erdbeiträgen aus ihren Wahlkreisen am Projekt beteiligt. Alle bisherigen Beiträge von MdBs und ihren Wahlkreisen werden hier dokumentiert.

21. Juli 2023
In Vorbereitung des 25-jährigen Jubiläums initiiert der Projektleiter Oliver Schwarz mit ersten Unterstützern aus der Zivilgesellschaft die “Werkstatt DER BEVÖLKERUNG”. Deren Ziel ist, die digitale Dokumentation und gegenwartsbezogene Begleitung des lebenden Kunstprojektes langfristig gewährleisten zu können.

10. September 2020 – 15. Januar 2021
“20 Jahre DER BEVÖLKERUNG im Deutschen Bundestag”, eine Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.), kuratiert von Oliver Schwarz, beleuchtet die ersten 20 Jahre Wachstums- & Rezeptionsgeschichte des partizipativen Kunstwerks im Reichstagsgebäude. Zur Ausstellung erschien ein Katalog: https://www.nbk.org/de/publikationen/hans-haacke

12. September 2000
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse gibt den Auftakt zur Ausstreuung der Wahlkreiserde mit Erde vom Jüdischen Friedhof aus seinem Berliner Wahlkreis.

25. August 2000
Installation der Webcam zur fortlaufenden Projektdokumentation. Start der Website www.derbevoelkerung.de

3. Juli 2000
Einladung der Abgeordneten zur Teilnahme am Projekt und Versand der vom Künstler gestalteten Jutesäcke für den Transport von Erde aus ihren Wahlkreisen.

10. April 2000
Beauftragung der am Projekt beteiligten Firmen.

5. April 2000
Auf der Tagesordnung des Bundestages: Debatte und Abstimmung über das Projekt. Knappe Entscheidung für die Realisierung des Projektes mit 260 zu 258 Stimmen bei 31 Enthaltungen.

SPD: ja: 9, nein: 188, enthalten: 20.
CDU/CSU: ja: 211, nein: 2, enthalten: 0.
FDP: ja: 31, nein 3, enthalten: 0.
Die Grünen: ja: 7, nein: 25, enthalten: 8.
Die Linke: ja: 0, nein: 42, enthalten: 3.

17. Februar 2000
Einzelne Abgeordnete kündigen ihren Widerstand an. Der Ältestenrat des Bundestages berät über Hans Haackes Projekt und empfiehlt eine Parlamentsdebatte.

25. Januar 2000
Auf Empfehlung des Ältestenrates kommt das Projekt noch einmal auf die Tagesordnung des Kunstbeirates. Der Kunstbeirat bekräftigt sein Votum für das Projekt erneut mit großer Mehrheit

2. November 1999
Der Kunstbeirat des Bundestages stimmt der Realisierung des Projektes DER BEVÖLKERUNG mit großer Mehrheit zu.

Mitglieder des Kunstbeirates in der 14. Wahlperiode: Wolfgang Thierse (SPD),
Anni Brandt-Elsweier (SPD), Dagmar Schmidt (SPD), Gisela
Schröter (SPD), Gert Weisskirchen (SPD), Renate Blank (CDU), Volker
Kauder (CDU), Dr. Rita Süssmuth (CDU), Dr. Antje Vollmer (Die Grünen),
Franziska Eichstädt-Bohlig (Die Grünen), Ulrich
Heinrich (FDP), Heinrich Fink (Die Linke).

3. Juni 1999
Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Projektgesellschaft “ARGE-Kunst im Nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes” von Hans Haacke & Oliver Schwarz mit der Bundesbaugesellschaft im Auftrag des Deutschen Bundestages.

22. Juni 1998
Hans Haacke nimmt die Einladung an. Beginn der Konzepterarbeitung.

17. Mai 1998
Hans Haacke wird vom Deutschen Bundestag eingeladen, ein Konzept zur künstlerischen Gestaltung des nördlichen Lichthofs im Rahmen der Kunst-am-Bau-Projekte für das Reichstagsgebäude zu entwickeln.